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Erinnerungen an Flucht und Vertreibung
Stimmen von
Zeitzeugen verarbeitete Heide Scherer in einem Buch – Eine Lesung
beim Tegernauer Krone-Frühschoppen weckte manche Erinnerungen.
Heide Scherer las beim Krone-Frühschoppen aus ihrem Buch über Flucht und
Vertreibung.
Foto: Heiner Fabry
Flucht von
unzähligen schutzlosen Menschen vor Kriegsgräueln, im Bombenhagel und
unter Geschützfeuer, ist seit Jahren fast täglich in den Nachrichten
präsent. Weniger im Bewusstsein ist noch, dass etwa 14 Millionen Menschen
aus den deutschen Ostgebieten unter vergleichbaren Bedingungen aus ihrer
Heimat fliehen mussten. Mit einer Lesung aus ihrem Buch "Wer Beine hat,
der laufe" erinnerte die ehemalige Lehrerin aus Schopfheim, Heide Scherer,
exemplarisch an die Schicksale zweier Kriegsmütter und einiger
Kriegskinder bei der Flucht aus Ostpreußen.
Durch klirrende
Kälte, zu Fuß oder über das Frische Haff, mit Karren oder in Viehwaggons,
hatten sie überlebt. Ergänzt wurde die Lesung durch Zeitzeugen aus der
Region, die sich zu Wort meldeten und spontan ihre eigenen Erlebnisse
beisteuerten.
In den Jahren 2007 bis 2012 hat Heide Scherer, die früher als Lehrerin an
der Max-Metzger-Schule in Schopfheim tätig war, Interviews mit noch
lebenden Zeugen der Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen bei Kriegsende
durchgeführt. Die zwei Kriegsmütter und vier Kriegskinder hatte sie in
ihrem Bekanntenkreis gefunden und deren Berichte zu einem Buch
verarbeitet. "Die Gespräche waren für die Zeugen, aber auch für mich
teilweise sehr belastend", erzählte Heide Scherer. "Viele haben zum ersten
Mal wieder von ihren Erlebnissen berichtet, da kam Vieles von früher
wieder hoch."
Ergreifend war der Bericht von zwei Schwestern, bei der Flucht zwölf und
14 Jahre alt, die sich ganz alleine auf die Flucht machten, denn die
Familie war durch den Krieg getrennt worden. Von der Schulbank mussten sie
weg, da die russische Front drohte. Züge waren so überfüllt, dass niemand
mehr mitkonnte. Als die Kinder mit einem alten Feuerwehrauto mitgenommen
werden sollten, bekam die Jüngste noch einen Platz, die Ältere wurde aus
dem Auto geworfen, als ein Parteifunktionär ihren Platz beanspruchte.
Am Fluss Netze angekommen, mussten sie zu Fuß weiter über die Straße
fliehen, da russische Soldaten ihnen auf den Fersen waren. Ein deutsches
Soldatenauto nahm sie weiter mit. Über holprige Waldwege, immer bedroht
von Tieffliegern, kamen sie schließlich im Westen an und waren in
Sicherheit. Wie durch ein Wunder hatten sich die beiden Mädchen auf der
Flucht wieder gefunden.
Eine andere Zeugin berichtete von ihrer Familie, dass die Mutter nicht mit
fliehen wollte. "Wir verlieren doch nicht den Krieg", hatte sie fest
geglaubt und "die Russen sind doch auch Menschen". Hatte sie gesagt.
Schließlich wurde sie von ihren Kindern fast mit Gewalt zur Flucht
genötigt. Bei 20 Minusgraden floh die Mutter mit ihren Kindern aus
Braunsberg über Umwege bis an die Ostsee, wo ein Schiff sie nach Dänemark
brachte. Eine andere Mutter von sechs Kindern erzählte, wie sie zu Fuß mit
ihren Kindern von Posen bis an die polnische Grenze gelaufen war. Sie
flüchtete zu Verwandten nach Dresden, nur um dort von den alliierten
Bombenangriffen getroffen zu werden. Die Schilderungen im Buch von Heide
Scherer waren bedrückend und zum Teil belastend. Auch wenn immer wieder
Episoden von spontaner Hilfsbereitschaft, tiefer Freundschaft und manch
heiterer Begebenheit erzählt werden.
Die Lesung löste bei den Anwesenden eigene Flucht- und
Vertreibungsgeschichten aus. Irmgard Buschkowski aus Inzlingen hatte mit
Hilfe ihrer Tochter die eigene Familiengeschichte verfasst, die sie
spontan vorstellte. Weitere Berichte trugen Johannes Cornelsen und seine
Frau bei, denen die Flucht über Dänemark gelungen war. Kaum zu bremsen war
Hannelore Bauer aus Maulburg, die aus Pommern über Dänemark fliehen
musste. Sie sorgte für ein bewegendes Moment beim Krone-Frühschoppen, als
sie spontan zu Heide Scherers Mozart-Sonate am Klavier den Gesangsteil
beisteuerte.
Das Buch: Heide
Scherer: Wer Beine hat, der laufe – Geschichten von deutscher Flucht und
Vertreibung. Europa Verlag, München 2016. 182 Seiten. 18,99 Euro.
Bericht: BZ/Heiner
Fabry
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